Bewusstseinsstrom und Acem Meditation

In unserem Bewusstsein gibt es einen kontinuierlichen Strom von Gedanken, Bildern, Eindrücken, Gefühlen und Stimmungen. Manchmal ist er deutlich, mitunter stürmisch und unruhig. Andere Male ist er still. Wir nehmen ihn kaum wahr.

von Are Holen (geb. 1945), Professor für medizinische Psychologie an der Universität Trondheim (NTNU), Begründer von Acem und Leiter von Acem International

Der Inhalt kann zusammenhängend sein oder ohne roten Faden. Manchmal überlassen wir uns dem Strom und genießen. Andere Male schließen wir ihn aus. Da ist er unangenehm. Wir wollen nicht mehr denken! Der Strom des Bewusstseins variiert mit unserem Befinden und mit unserer Situation. Er unterscheidet sich von Mensch zu Mensch. Wir alle kennen ihn. Er ist allgemein menschlich. Was stellt diese wechselhafte Aktivität unseres Bewusstseins dar? Welche Funktionen hat sie? Wie können wir sie verstehen? Welchen Wert hat sie?

Etwas Vernunft zuerst

Der westliche Mensch hält sich gerne für ein Vernunftwesen. “Cogito, ergo sum” (aus dem Lateinischen: “Ich denke, also bin ich”), stellte Descartes fest. Jahrhundertelang haben wir eine Kultur gefördert, zu deren Idealen es gehört, Gefühle und Irrationalität wegzuhalten, um logisch und analytisch zu denken. Wir wollen auf Wissen bauen, nicht auf Glauben. Die rationale Denkweise hat durch Jahrhunderte zu Fortschritt innerhalb von Wissenschaft und Technologie geführt. Sie hat uns einen hohen Lebensstandard gesichert und eine Freiheit des Denkens als Grundlage für Demokratie. Es gibt viele Beispiele, wo die Vernunft triumphierte. Folglich haben wir in der Erziehung, in Ausbildung und im Gesellschaftsleben Wert darauf gelegt, rationales, auf Wissen basierendes Denken zu entwickeln.

In der geistigen Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen bildet sich die Vernunft zuletzt aus. Außerdem wird sie schnell ausgeschaltet, wenn wir in einen Affekt geraten. Vernunft ist keine Selbstverständlichkeit, eher ein Ideal. Was nicht von Vernunft geprägt ist, lässt sich leicht verurteilen. Manchmal wird mit Recht behauptet, dass die Vernunft nur einen kleinen, unstabilen Anteil des Bewusstseins ausmacht.

Was ist mit dem Rest unseres Bewusstseins? Besteht der ausschließlich aus Unsinn, Durcheinander und Irrationalität? Umfasst er Seiten des Menschen, die wir vermeiden oder in Schach halten sollten? Gefühle werden oft als das Gegenteil von Vernunft dargestellt. Sicherlich gibt es viele Möglichkeiten von Chaos, wenn Gefühle frei walten dürfen. Aber ist das die ganze Geschichte? Kann nicht eine starke Betonung von Vernunft dazu führen, dass wir “das Kind mit dem Bade ausschütten”?

Geistiges Verarbeiten

Nachdem es in der europäischen Geistesgeschichte über Jahrhunderte mehrere Wechsel für und gegen Rationalität gegeben hatte, wurden solche Fragen wiederum aufgeworfen im Fahrwasser der Arbeiten von Sigmund Freud, C.G. Jung und anderen. Der Grundgedanke war, dass es in uns einen Verstand der Gefühle gibt. Er ist nicht ohne Weiteres zugänglich und muss, wie die Vernunft, entwickelt und zu Tage gefördert werden. Es ist notwendig, ihn an unserer Entfaltung als Individuum, Gruppe und Gesellschaft zu beteiligen, wenn der Mensch nicht mit sich in Unfrieden geraten und unnötig leiden soll.

Doch wie kommen wir an den Verstand der Gefühle heran? Mehrfach diente gerade der Strom der Gedanken als Ausgangspunkt. “Freie Assoziationen” nannte es Freud. “Strom des Bewusstseins” hieß es unter anderem bei dem Arzt William James an der Harvard Universität. Der Schriftsteller James Joyce befasste sich mit Entsprechendem in Romanen wie Ulysses. Aus solchen Blickwinkeln hält man den Gedankenstrom für ein spontanes Verarbeiten von Eindrücken, Erfahrungen und Herausforderungen. Dabei wird eine größere und tiefere Ganzheit erlangt als sie jemals einem rationalen Denken direkt zugänglich werden könnte.

Diese “Verarbeitung” ist nicht in erster Linie rational, aber sie besteht aus einer Art Auseinandersetzung oder Reflexion des Daseins. Ständig sucht sie Antworten auf fundamentale Fragen: Wer bin ich jetzt? Wer sind die Menschen um mich herum? In welcher Welt lebe ich? Der Gedankenstrom enthält einen philosophischen und existentiellen Kern, der mit unseren grundlegenden Vorstellungen von uns, von anderen und der Welt arbeitet.

Größere Freiheit

Diese Prozesse sind oft vorsprachlich und prälogisch. Sind die notwendigen Voraussetzungen gegeben, können sie Kontakt zu unserem Inneren herstellen, mit neuen Möglichkeiten für Soziales und Arbeit. Sie können unsere Fähigkeit zur Introspektion verbessern, vor allem wenn wir Antworten suchen, wenn wir nicht wissen, wonach wir suchen. Der Strom von Gedanken wird nicht von Vernunft gesteuert, er besteht nicht aus systematischen Abwägungen und klaren Formulierungen. Er steht auch nicht im Verhältnis von Gegensätzlichkeit zur Vernunft. Hin und wieder kann er die Vernunft mit neuen Voraussetzungen für rationales Denken bereichern.

Wenn wir unser Denken erweitern wollen und von den spontanen Seiten des Bewusstseins profitieren können, bleibt die Frage: Welche Voraussetzungen geben dem Gedankenstrom größere Freiheit? In der Psychoanalyse soll man “laut” denken, ohne Kontrolle oder Zensur. In der ersten Phase kreativer Prozesse legt man Wert darauf, Impulse ohne Kritik zuzulassen. In Freizeit und Ferien möchten wir am liebsten alles weg haben, was bindet. Im Wesentlichen gilt, je mehr wir uns erholen wollen, desto mehr Ungebundenheit und Freiheit brauchen wir.

Kurz über Acem Meditation

Acem Meditation ist eine Methode, mit der man an seinem Verhältnis zum eigenen Leben arbeiten kann. Mit der Methode vergrößert man die Gelassenheit zum Gedankenstrom. Damit können die psychologischen Grenzen unseres Erfahrungs- und Handlungsspielraums bewusst werden und sich neue Lebenslösungen eröffnen.

Durch tiefe Entspannung und Aktualisierung in der Meditation lässt sich eine wichtige Entwicklung in Gang setzen, welche die Bearbeitung von Persönlichkeitsstrukturen mit sich bringt, die unsere Erfahrungen mitbestimmen. Schrittweise kann diese Entwicklung dazu beitragen, die psychologischen Voraussetzungen für unser Verhältnis zu uns selbst, zu anderen und zur Welt zu ändern. Die Triebkraft zu einer solchen Entwicklung steckt schon in uns. Regelmäßige Ausübung von Acem-Meditation kann Möglichkeiten verbessern und ausweiten, die sonst leicht ungenutzt bleiben.

Die Arbeitsmittel: Laut und Gelassenheit

Acem Meditation wird im Sitzen durchgeführt – entweder in einem Sessel oder im Bett. Man schließt die Augen und wiederholt leicht und gelassen in Gedanken einen Meditationslaut. Der Platz, an dem man meditiert, soll abgeschirmt und abgedunkelt sein. Es wird empfohlen, Acem Meditation täglich entweder zweimal 30 Minuten oder einmal 45 Minuten durchzuführen. Kürzere Meditationen haben auch eine gute Wirkung, sind aber weniger tiefgreifend.

Meditationslaut

Wenn man meditiert, wiederholt man unangestrengt gedanklich einen Meditationslaut. Den Laut bekommt man von einem Meditationslehrer entweder in einer Gruppe oder individuell zugeteilt. Erfolgt die Zuteilung in einer Gruppe, erhalten alle denselben Laut. Dieser hat keine sprachliche oder symbolische Bedeutung. Er ist eine kurze Laut- und Rhythmuszusammensetzung, die meditative Versenkung durch ihre Lautstruktur und nicht durch Bedeutung fördert. Seine Wirkung gleicht mehr der von Musik als der von Sprache. Um wirksam zu sein, muss der Meditationslaut assoziationsfrei sein. Assoziationen mit Begriffen, Beziehungen, Situationen oder Werten schwächen seine Wirkung.

Tägliches Meditieren setzt tiefere vorsprachliche, prälogische Prozesse in unserer Persönlichkeit in Gang. Damit der Meditationslaut die optimale Wirkung bekommt, soll der Meditierende auf bestimmte Weise mit ihm umgehen. Er soll ihn für sich behalten, ihn nicht laut aussprechen, nicht aufschreiben und ihn nicht für etwas anderes benützen als zum Meditieren. Man soll ihn wie etwas Persönliches und Privates behandeln. Aus demselben Grund werden die verschiedenen Meditationslaute und Kriterien für individuelle Zuteilung hier nicht näher besprochen.

Der Meditationslaut stellt kein Geheimnis dar. Nichts wird aufgedeckt oder erreicht, wenn er bekannt wird. Jedoch können andere Personen mit einem entsprechenden Meditationslaut es unangenehm und aufdringlich empfinden, wenn ihn jemand benennt.

Das Wichtige beim Meditieren liegt nicht im Meditationslaut, sondern in der Ausführung. Man muss lernen, die Meditation unter wechselnden inneren Bedingungen durchzuführen. Am besten lernt man das durch tägliches Praktizieren der Technik und gelegentliches Besprechen der Ausführung mit Meditationsberatern.

Obwohl Acem Meditation einfach auszuführen ist, so ist ihre Wirkungsweise mitunter schwieriger zu verstehen. Durch seine Meditationsentwicklung wird der Meditierende in eine Abwehrsituation kommen, bewusste und unbewusste Kräfte gegen Veränderung werden geweckt. Die tieferen, vorsprachlichen und prälogischen Prozesse machen eine Einsicht in Acem Meditation selbst für den schwierig, der die Methode über längere Zeit täglich praktiziert hat. Unterweisung in Meditationspsychologie kann zu einem gewissen Grad helfen, aber der beste Weg, sein Verhältnis zur Meditation zu verstehen und es aufzufrischen, nachdem man einige Zeit meditiert hat, liegt in der Teilnahme an Langzeitmeditationen. Das sind Meditationen von mehr als einer Stunde; sie werden bei eigens dafür organisierten Zusammenkünften praktiziert und sollen immer von Betreuung begleitet sein. Bei einer Langzeitmeditation werden alle Meditationsprozesse intensiviert und verdeutlicht, vor allem, wenn mehrere Tage hintereinander meditiert wird.

Gelassenheit

Der Meditationslaut soll gedanklich und mit einer bestimmten inneren Haltung wiederholt werden. Er soll nicht mit Konzentration, Druck oder Disziplin wiederholt werden, sondern ohne Anstrengung, auf eine offene und freie Weise. Für gewöhnlich sagt man, er soll mit “Gelassenheit” wiederholt werden oder mit einer “gelassenen Haltung” oder auf eine “ungebundene Weise”.

Der Begriff der Gelassenheit spielt für Acem-Meditation eine ganz zentrale Rolle. Die Gelassenheit oder Ungebundenheit ist es, die man beim Meditieren versucht, in jeglichem inneren Zusammenhang zu pflegen. Die ungebundene Haltung ist der Schlüssel für Resultate und Fortschritt. Der Meditationslaut spielt eine untergeordnete, aber notwendige Rolle. Verlust von Gelassenheit setzt der Meditation Grenzen. Ein Einführungskurs in Acem Meditation hat zum Ziel, bei den Anfängern einen hinreichenden Grad an Ungebundenheit in der Ausführung zu erreichen. Das geht nicht im Handumdrehen. Was man mit dem Kopf versteht, spielt weniger eine Rolle. Acem-Meditation ist eine nicht-intellektuelle Technik. Ergebnisse der Meditation gewinnt man nicht aus einem Begriffsverständnis, durch Glauben, mit Hilfe höherer Mächte oder dank eines Gurus. Entscheidend ist der eigene Einsatz durch die Ungebundenheit, die in jeder einzelnen Meditationslautwiederholung geschaffen wird. Durch dieses innere Handeln können Grenzen im Leben des Meditierenden aufrechterhalten oder aber gelockert werden.

Mit zunehmender Gelassenheit auf tieferen Ebenen werden begrenzende Strukturen bewusst werden. Zunächst tauchen sie als Tendenzen der Anstrengung beim Meditieren auf – ohne dass man wirklich den Zusammenhang sieht. Gelangt man erneut zu einer guten, ungebundenen Lösung in der Ausführung, wird sich der Effekt nach und nach im äußeren Leben des Meditierenden geltend machen. Löst man das Meditationsproblem dagegen ohne Gelassenheit, z.B. mit Hilfe von Konzentration oder Lenkung, dann kann das Problem zwar kleiner erlebt werden, aber die eigentliche Meditationswirkung bleibt aus.

Über die Weise, wie sich Ergebnisse des Meditierens geltend machen, heißt es oft: “Erst in der Meditation, dann im Leben”. Je länger man regelmäßig die Meditation durchführt, umso mehr wird ihre Ausführung zum Vorreiter der persönlichen Entwicklung, des Wachstums und der Veränderung. Alle zentralen Lebensbelange werden früher oder später hier ihren Niederschlag finden, aber selten so wie man es erwartet. Aus solchen Gründen ist Meditation ein existentielles Training in Prozessorientierung, d.h. Möglichkeiten dort zu finden, wo der Weg nicht gradlinig und offenkundig ist. Das ist allerdings selten der Fall, wenn man mit unbewussten Prozessen arbeitet.

Entspannung

Beim Meditieren wird man sehr entspannt. Die Entspannung strebt man aber nicht mit Willen, Entschluss oder Anstrengung an; sie ist vielmehr ein spontanes Ergebnis der Meditation. Die Entspannung wird reflektorisch ausgelöst. “The relaxation response” hat der Harvard Physiologe Herbert Benson das Phänomen genannt. Sie kann sowohl durch äußere und soziale Reize ausgelöst werden als auch durch bestimmte Aktivitäten innerhalb des Nervensystems. In Acem-Meditation werden die Entspannungsreflexe durch richtige Meditationsausführung ausgelöst. Entspannung ist die grundlegendste Wirkung der Meditation. Ihre Ruhe ist ein wichtiger Kontrast zu einem hektischen und gestressten Alltag. Aber Entspannung ist nicht nur ein Ergebnis. Sie ist auch ein Anfang und eine Voraussetzung für Aktualisierung mit tieferer Bearbeitung. Entspannung öffnet uns für einen Kontakt zu eher unreifen, unbefriedigten und unbearbeiteten Bedürfnissen in uns.

Scheinbar besteht eine Art Gegensatz zwischen Spannung und Entspannung. Gleichzeitig ziehen sich beide gegenseitig an. Zu viel Spannung weckt eine Sehnsucht nach Ruhe, Frieden und Entspannung. Viel Entspannung lässt uns Stimulierung, Herausforderung und Spannung suchen. Wir haben ein Bedürfnis, im Leben zwischen diesen Polen zu wechseln. Spannung können wir auf verschiedene Weisen suchen. In einer oberflächlichen und konsumorientierten Gegenwart wird man Spannung leicht durch “action” bekommen. Das kann Bungeespringen sein, Felsklettern oder etwas Verbotenes zu tun. Spannung kann einem ansonsten leeren Dasein Sinn geben. Aber Sinn kann auch in introspektiver Richtung durch Selbstkonfrontation und Erkenntnis gesucht werden. Solches Erforschen ist auch spannend und bereichernd, und außerdem weniger risikoreich. Dafür setzt es mehr Vertiefung, Zeit und Prozess voraus.

Verändertes Zeiterleben

Beim Meditieren ändert sich das Zeiterleben. Eine halbe Stunde Meditation wirkt kürzer als die entsprechende Zeitspanne im Alltag. Je tiefer man in Meditation ist, desto schneller vergeht die Zeit. In Hypnose dagegen wird die Zeit sehr langsam erlebt. Selbst kurze Zeiträume in Hypnose wirken lang. Acem Meditation und Hypnose sind sehr unterschiedliche Prozesse.

Verändertes Zeiterleben wird als Ausdruck fundamentaler Wechsel in unserer kognitiven Arbeitsweisen angesehen. In der Kindheit vergeht die Zeit sehr langsam. Die Fähigkeit zu Reflexion und Ausdauer ist begrenzt. Die Zeit von Sommer bis Weihnachten kam uns unendlich lang vor. Psychologisch unreife Erwachsene haben auch eine kürzere Zeitperspektive. Sie haben Schwierigkeiten, langfristig zu denken, Bedürfnisse auszusetzen und durchzuhalten. Was nicht hier-und jetzt ist, scheint unendlich weit weg zu sein.

Mit zunehmendem Alter und Reife ändert sich das Verhältnis zu der Zeit. “Die Jahre gehen schneller dahin”. Das veränderte Zeiterleben macht es leichter, unterschiedliche, von einander fern liegende Phänomene der Zeit in einem größeren Zusammenhang zu sehen. Die Zeitperspektive, in die man hineinwächst, macht es möglich, immer mehr Teile einer größeren Ganzheit zu überschauen. Die meditativen und reflektierenden Haltungen, die bei verändertem Zeiterleben in der Meditation wirksam werden, haben viel mit Perspektiven gemeinsam, die sich mit zunehmendem Alter auftun können.

Ein Wechsel im Zeiterleben hat noch einen anderen Aspekt. Wenn unser Geist engagiert ist, verlieren wir leicht das Zeitbewusstsein. Wir sind absorbiert, fühlen uns frei und entfalten uns. Je reicher unser Leben ist, desto mehr Quellen von Engagement haben wir – in Liebesbeziehungen oder Freundschaften, in interessanter Arbeit, körperlichem Einsatz, Naturverbundenheit, Kunstinteresse oder in kulturellem Engagement. Wir haben uns angewöhnt zu denken, dass solche Befriedigung ausschließlich aus Aktivitäten zu holen ist, die nach außen gerichtet sind, aber es gibt auch Quellen von Engagement und Spannung in Introspektion und Erkenntnis. Diese Möglichkeiten werden allerdings in der heutigen Gesellschaft wenig beachtet.

Aktualisierung und neue Möglichkeiten

Die ganze Zeit nehmen wir Eindrücke auf. Dabei kann es sich um einfache Beobachtungen oder komplexe Erfahrungen handeln, um Niederlagen und Siege. Eindrücke beinhalten zentrale und periphere Einzelheiten. In unterschiedlichem Grade aktivieren sie Gefühle und Perspektiven darüber, wer wir sind, wer unsere Mitmenschen sind und in welcher Welt wir leben. Wir ordnen, gewichten und verstehen die Erfahrungen nach etablierten psychologischen Deutungsmustern – auch ‘Schemata’ genannt.

Diese Schemata geben Strukturen vor, die das Lernen und Erfahren steuern und daran beteiligt sind, unser Erleben, Handeln und unsere Lebensrichtung zu bestimmen. Manchmal werden Eindrücke bestehende Schemata bestätigen. Andere Male passen die Erfahrungen nicht hinein und schaffen Dissonanz. Dann können wir die Erfahrungen entweder übersehen oder damit beginnen, unsere Schemata zu revidieren.

Es gibt Kräfte in uns, die ständig nach Ganzheit und Integration zwischen unserer Erfahrung und unserem Selbst trachten. Durch Entspannung und verändertes Zeiterleben wird diese Orientierung während der Meditation spontan verstärkt, Wirklichkeits- und Selbstauffassungen streben nach einer besseren Platzierung der Bedürfnisse und Ressourcen – ausgehend von individueller Eigenheit und Lebensphase.

Wie bereits erwähnt, ist Bearbeitung in der Meditation kein intellektueller Prozess. Die reflektierende und bearbeitende Aktivität findet durch den Strom des Bewusstseins statt; sie stellt eine Art kontinuierlicher Positionierung zu unserem Leben dar und wird beim Meditieren verstärkt.

Die Qualität und Tiefe des psychologischen Verarbeitens, das wir uns erlauben, ist entscheidend für unseren Lebensinhalt und unser Wohlbefinden. Nach einem Tag Arbeit mit vielen Kontakten und Aufgaben brauchen wir etwas Zeit für uns selbst, um uns zu entspannen, um zu uns zu kommen und die Gedanken wandern zu lassen. Im einen oder anderen Sinne haben wir es nötig, täglich zu meditieren.

Unsere genetische Ausgangsbasis scheint sich in einem Grundtemperament mit dazugehörigen Verhaltensneigungen und Präferenzen auszudrücken. Verwoben mit unterschiedlichen prägenden Erfahrungen aus unserem Leben in der Familie, Schule und Gesellschaft festigen sich psychologische Strukturen oder Schemata, die zum Guten und zum Schlechten Richtung gebend sind für unsere Lebensentfaltung. Durch die Ungebundenheit in den täglichen Meditationen werden unfertige Schemata in uns aktualisiert. Das Meditieren wird wie das Öffnen einer Flasche Mineralwasser: Strukturen des Wassers, die nicht sichtbar waren, werden deutlich und sprudeln an die Oberfläche. Durch Aktualisierung kommen sie in Reichweite für Veränderung.

Wenn man richtig meditiert, wird man unweigerlich früher oder später beginnen weniger gelassen zu meditieren – ohne zu verstehen, warum. Man aktualisiert tiefere Spannungen und weckt Erfahrung steuernde Kräfte, die auf unerkannte Weise die Ausführung des Meditierenden “verdrehen”. Dieser bekommt ein Meditationsproblem und landet in einer paradoxen inneren Situation. Das Meditationsproblem stellt in tieferem Sinne ungelöste Lebensspannungen dar und aktiviert unvollständige Schemata. Man spricht dann von Aktualisierung unerkannter Spannungen.

Bei Aktualisierung gibt es scheinbar keine Lösung mit Gelassenheit auf eine Art und Weise, die man gewohnt ist. Das Meditationsproblem fordert mehr Selbstverständnis und innere Abklärung als das, was einem zum aktuellen Zeitpunkt an psychologischen Ressourcen zugänglich ist. Gleichzeitig ist klar, dass man etwas Neues tun muss. In der ersten Phase weicht man leicht von dem Prinzip der Gelassenheit ab. Die Meditation wird also weniger gelassen – ohne dass man es selbst einsieht. Wie bei einem Koan im Zen muss der Meditierende Grenzen seines Bewusstseins durchbrechen, um in Acem Meditation weiterzukommen – ansonsten tritt er auf der Stelle. Das kann dazu führen, dass einem das Meditieren weniger gibt. Man hört auf. Oder man macht ausschließlich wegen der Entspannung weiter, ohne dass viel mit der Persönlichkeit geschieht. Durch Abklärung und Besprechungen des Meditationsproblems kann man wieder Ungebundenheit gewinnen und weiterkommen – einen wichtigen Schritt weiter in sich selbst.

Variation und Vertiefung

Unsere Lebensentfaltung ist oft von Gegensätzen geprägt. Wir suchen Abwechslung und trachten nach Stabilität. Wir sehnen uns nach Sicherheit, aber wir begeben uns auch in Einsätze, Spannung und Gefahr. Wir wollen gerne Verantwortung übernehmen, verstehen und beherrschen, aber zwischendurch wollen wir zurückschalten, Pflichten und Aufgaben sein lassen. Wir möchten gerne steuern und bestimmen, aber wollen das Ruder auch anderen überlassen. Wir suchen Sicherheit, Sinn und Ganzheit, mögen aber auch Chaos, Verwirrung und Unklarheit. Alles zu seiner Zeit in unterschiedlicher Mischung.

Die moderne Welt verleitet zu Befriedigung durch häufiges Wechseln. Dabei kann es um “action”, Mode, neue Partner oder auch Reiseziele gehen. Große Variation bringt leicht eine konsumierende Haltung mit sich; was Interesse weckt, ist von kurzer Lebensdauer, wie MTV und seine Bilder.

Zeitungen haben täglich eine neue Sensation. Hat man keine Neuigkeit, erfindet man eine. Etwas Neues. Immerzu. Stellt man sich darauf ein, dass Bedürfnisse am besten durch Abwechslung gedeckt werden, können daraus schnell Leere und Lebensüberdruss resultieren.

In gewissem Grad haben wir einen Bedarf an Abwechslung, aber wenn es zu viel wird, laufen wir Gefahr, oberflächlich, rastlos und selbstentfremdet zu werden. Das Resultat kann ein Mensch ohne Verankerung sein, mit geringer Fähigkeit zu Reflexion, Introspektion und Empathie. Umtriebigkeit kann eine ständige Flucht unterstützen – weg von sich selbst und von anderen.

Weniges regt heutzutage zu existentieller Vertiefung an. Acem Meditation lädt dazu ein, sich auf einen Kontakt mit der Stille in uns einzulassen. Tiefe Entspannung und verändertes Zeiterleben aktualisieren das Unfertige in uns. Meditation kann unser Selbstverständnis verbessern und neue Seiten von uns verwirklichen. In gewissem Sinne steht deshalb Meditation in einer Art Kontrastverhältnis zu einzelnen zentralen Merkmalen der Gegenwart. Bereicherung durch Meditation folgt aus größerer Freiheit für spontanes Nachdenken und tiefere Reflexion. Sie kann Klärung und Perspektiven geben, die Illusionen abbauen, Vorurteile und Idealisierungen mildern. Sie kann uns einer Ganzheit und tieferen Klärung näher bringen, die durchgreifend ist und besseren Halt schenkt.

In einem Prozess leben

Die Gesellschaft ändert sich. Nicht nur in Freizeit und Ferien, sondern auch bei der Arbeit muss der moderne Mensch anderen Bahnen folgen als früher. Die Entwicklung setzt voraus, dass man kreativer ist, bereit zu lebenslangem Lernen und in größeren Einheiten befriedigend zurechtkommt. Ständig muss man sich auf neue Technologien, neue Organisationsstrukturen usw. umstellen. Das erfordert sowohl soziales Einleben als auch die Fähigkeit, sich selbst in neuen Zusammenhängen einzusetzen. Man muss neue Situationen und Personen beurteilen, in manchen Fällen Sachverhalte einschätzen, aber noch häufiger besteht die Aufgabe darin, die Menschen zu verstehen, mit denen man zu tun hat.

Signale von einem selbst und von anderen aufzufassen und etwas Konstruktives daraus zu machen, setzt Achtsamkeit und Gewandtheit u.a. im Kontakt mit dem Gedankenstrom voraus und wird gerne als die Fähigkeit bezeichnet”, im Prozess zu sein”. Prozessorientierung bezeichnet eine Lebenseinstellung zur Arbeit, Mitmenschen und den eigenen psychischen Vorgängen, die zusammengefasst wird in dem Ausdruck:”Der Weg ergibt sich, während du gehst”. Aus einer solchen Anschauung folgt, dass man nicht weit kommt mit einem statischen Ansatz oder wenn man sich im Vorhinein alle Lösungen ausdenkt, um sie danach im Leben umzusetzen. Wenn man sich nicht bewegt, keine Herausforderungen annimmt, dann lernt man auch keine neuen Seiten von sich kennen. Dann bekommt man auch keinen Zugang zu den notwendigen Signalen, die Wachstum ermöglichen. Prozessorientierte Lebenseinstellung ist in gewissem Grade dynamisch und grenzsprengend. Sie setzt vermehrt innere und äußere Nähe voraus. Wie lässt sich also die Fähigkeit fördern, “im Prozess zu sein”?

Wege des Wachstums

Wir sollen uns in verschiedenen Lebensbereichen entfalten – durch Intimität, Arbeit, Sport, Beziehungen, aber wir müssen uns auch nach innen wenden, verarbeiten und integrieren, unsere Perspektive erweitern und vertiefen. Es gibt sicherlich nicht nur eine Antwort oder nur eine Methode, die uns helfen kann, in unserem Entwicklungsprozess weiterzukommen.

Prozessorientierung bedeutet, die Konsequenz daraus zu tragen, dass der Mensch von Natur aus meditiert und philosophiert, aber natürlich nicht mit dem Buchwissen eines Fachphilosophen. Vielmehr haben wir ein Bedürfnis, über das Dasein mit dem Verstand der Gefühle zu reflektieren.

Von Zeit zu Zeit müssen wir innehalten, nachdenken und nachfühlen. Ohne solches Innehalten können wir ins Stocken geraten, uns unwohl fühlen, vielleicht sogar von uns oder unserem Leben davonlaufen. Das kann eine Zeit lang gut gehen, vielleicht einige Jahre, vor allem wenn man jung ist, macht man aber weiter so, bekommt es über kurz oder lang unerwünschte Folgen.

Es hat sich zunehmend die Erkenntnis durchgesetzt, dass Prozessdenken auf die gleiche Weise kultiviert werden muss wie rationales Denken. Es braucht Zeit, es zu entwickeln. In der modernen Pädagogik, der Ausbildung von Führungskräften und im Verwaltungswesen hört man immer häufiger von Lehrgängen mit prozessorientierter Prägung. Man lernt, indem man sich in einer sicheren Atmosphäre ausprobiert, Rückmeldung entgegennimmt und darüber nachdenkt, wie man sich verhält. Einsatz, Entspannung und Reflexion bilden einige der Voraussetzungen für einen Prozess.

Was soziale Zusammenarbeit, Aneignung von Wissen oder das Umsetzen von Ideen in die Praxis betrifft, haben gängige Methoden der Prozessorientierung etliches beizutragen. Auf der anderen Seite gibt es wenige und oft unvollständige Alternativen, wenn es um die inwendigen, meditativen Seiten von Prozessen geht. Man kann sogar auf eine gewisse Skepsis gegenüber psychologischer Selbstvertiefung stoßen.