Carl Henrik Grøndahl:
Die Stille des Fjells in Dir
aus dem Norwegischen übersetzt von Barbara Liv Eriksen
In Norwegen waren Natur und Stille schon immer eine prägende Erfahrung für die meisten Menschen. Die Norweger gehen hinaus, im Sommer und Winter, suchen die Natur, das Sein in ihr.
Daher ist es vielleicht nicht weiter verwunderlich, dass eine Meditationsform, die teilweise in Norwegen entwickelt wurde, tiefere Lagen in der Psyche erforscht hat, welche mit der Stille in der Natur vieles gemeinsam hat.
So die Einleitung in der neuen Ausgabe von Psychology of Silence. Das folgende ist ein Versuch, etwas tiefer hinter diese Worte zu blicken.
Jotunheimen. Du bist auf Wanderung, auf dem Weg von der Hütte Leirvassbu nach Olavsbu. Mitten im Nationalpark mit Norwegens höchsten Berggipfeln.
Grosse, spitze, scharfkantige Felsbrocken türmen sich planlos im Geröllfeld auf-, unter- und nebeneinander. Du balancierst vorsichtig von Stein zu Stein, Kante zu Kante, den Blick fest nach unten gerichtet.
Weit weg, auf der anderen Seite des Tals, bricht das Tosen eines Wasserfalls die Stille. Mit rasender Gewalt zwingt er sich unter einer Schneeflanke in die Freiheit.
Direkt gegen dich donnert der Skardalstinden mit erhabener Stille – schwarz, nass, gewaltig, und lässt dich nicht mal seinen Gipfel erblicken. Dichte Nebelschwaden umhüllen ihn. Er hält dich mit seiner schwarzen, nassen, gewaltigen Kraft fest.
Die steilen, eiskalten Bergflanken lassen nur einzelne Grashalmen auf sich wachsen. Dünn und zitternd kämpfen sie in diesem gnadenlosen Nichts um ihre Existenz.
Weit, weit unten, am nördlichen Ufer des Langvatnet, sind zwei kleine Punkte in Bewegung, ein roter und ein grüner. Menschen. So winzig klein und allein in dieser weiten Stille, die den so natürlich gewordenen Alltag unter dir wegreisst.
”Wer bist du?” fragt das Fjell; fragt die Stille. ”Was tust du hier?”
Und du gehst in dich, hinter die Worte, und verstehst: du lebst nur für einen ganz kurzen Augenblick. Dann bist du weg, mit all deinen Sehnsüchten, deinen Entbehrungen, deinen Schmerzen, deinem Leben – dem Fjell ist das alles egal.
Du wanderst mit einem Kameraden, bist nicht allein, doch die Stille lässt sie nach und nach hervorbrechen - eine beunruhigende, erschütternde Einsamkeit in dir.
Langsam, vorsichtig, setzt du einen Fuss vor den anderen. Das Geröllfeld scheint endlos. ”Stolperst du hier”, sagt das Fjell, ”werde ich dich in strömendes Blut kleiden, und dir deine schwachen Beine brechen.”
Du erreichst jetzt einen Fluss, in kräftigen Stromschnellen fliesst er an dir vorbei, breit und mächtig, mit nassen, glatten Steinen. Du musst hinüber, auf die andere Seite, um deinen Weg fortzusetzen.
”Machst du hier einen Fehltritt”, warnt das Fjell, ”wirst du das Bad dein Leben lang nicht vergessen.”
Der Pfad führt dich weiter, hinauf auf das Raudalsbandet. Du wagst den Schritt in eine 200 Meter steile Schneeflanke. ”Verlierst du hier den Halt”, spricht das Fjell, ”werde ich dich auf deine letzte Reise schicken.”
”Denn das hier ist meine Stille. Du kannst dich nicht in ihr verstecken. Ich schenke dir keine weichen Grashügel und wärmende Laubbäume. Hier kannst du dich nicht unter singenden Vögeln ausruhen, und das kleine Wiesel, welches dich so gross werden lässt, kann hier nicht überleben.
Meine Stille ist schwer, ist zeitlos, und all das, was du ständig zu tun und glauben hast, wird ruhig in dir. Diese Nichtigkeiten, denen Du so viel Bedeutung beigemessen hast.
Ich werde auch in tausend Jahren hier stehen. Genauso schwarz, nass und mächtig. Genauso steinern gleichgültig. Und du - wo bist du dann?”
Du weisst keine Antwort.
”Dies ist meine Stille”, fährt das Fjell fort. ”Bleib bei mir. Sieh, wie zufällig du bist. Wie zerbrechlich. Und wie gross du dadurch wirst.
Doch suchst du die süsse Stille – kehr um.”
Du hast nun das Rauddalsbandet erreicht, setzt den Rucksack auf einen Stein und lässt dich nieder. Die zahlreichen Gipfel um dich herum, recken sich zielstrebig in den Himmel.
Neben dir eine Blume, eine Lapprose, sich unverdrossen zu Leben und Fruchtbarkeit in der unbarmherzigen Wildniss erkämpfend. Eine verletzliche Schönheit. Sie widersetzt sich hartnäckig diesem schwarzen, kalten und gleichgültigen Gebirge.
Eine junge, blonde Frau taucht vor dir auf, springt leicht und elegant von Fels zu Fels. Sie ist alleine unterwegs, mit Osprey Rucksack und Mammutstiefeln, weiss sich in diesem Gebirge richtig zu kleiden.
Aber sie grüsst nicht, sieht dich kaum, denn weisse Kabel verschwinden von ihren Ohren in die Taschen ihrer Fjällrävenjacke. In ihrem Inneren dröhnt Musik. Eine andere, lautere Wirklichkeit. Verlangt die Stille des Fjells zu viel von ihr?
Wer erträgt schon die Gleichgültigkeit der irdischen Existenz als Zwanzigjährige?
Sie tanzt weiter, verschwindet über die Schneeflanke, bald ist sie nur noch als kleiner grüner Fleck sichtbar. Dann ist sie ganz verschwunden.
Und plötzlich verstehst du. Dies ist die Erde ohne Menschen. Vor den Menschen. Vor dem Lärm. Vor den Bedürfnissen, Hunger und Entbehrungen. Vor dem Tod.
Und nach ihm.
Wo die Lapprose aus reiner Lebenskraft im Juni erblüht, und im August, vom nächtlichen Frost überrascht, schon wieder stirbt.
Für einen winzigen Hauch von Ewigkeit lässt sie die Erde schöner werden.
Warum? Zur Freude von wem?
Dies ist die mächtige Stille, erfüllt von – etwas. Etwas Grossem. Unfassbar Grossem.
Eine Stille, welche Frage um Frage gebärt, sich aber mit raschen Antworten nicht zufrieden stellt.
Diese Stille reisst deine gewohnten Gedanken von dir, deine liebgewonnene Erzählung über dein Leben. Du musst ganz tief in dich selbst versinken, um zu hören. Bis da hinein, wo ständig etwas in dir arbeitet.
Wer bin ich? Was tue ich hier?
Vom Skardalstinden weht leichter Schneefall, du fröstelst, es ist kälter geworden. Stiefel schnüren, Rucksack schultern, weiter geht es. Die grossen, spitzen, scharfkantigen Felsbrocken warten schon.
Ein kleiner, feingliedriger Mann mit rotem Bart und wuscheligem Haarschopf taucht auf. ”Von Olavsbu?” ”Jooo”, antwortet er mit freundlichem Lächeln. Ein Schweizer!
Was sucht er denn hier? Mitten in Jotunheimen? Hat es denn nicht genügend Berge und Stille in seinem Land?
”Die Alpen sind so jung”, meint er eifrig. ”Sie schwingen zu schnell, wollen zu viel. Eine unruhige Stille. Die Berge hier sind alt. Sie strahlen Ruhe aus, Geborgenheit. Langsamkeit.”
Der Schweizer läuft weiter. Über das alte, stille Fjell. Bald ist auch er verschwunden.
Klein und willkürlich sind wir Menschen in dieser mächtigen Landschaft. Als ob das Fjell uns von sich schüttelt. Und doch lässt es uns teilhaben an etwas unfassbar Grossem. Schenkt uns eine Stille, welche uns tief hinein zum Schöpferischen in uns leitet.
Und aus dieser Stille wuchs die Acem Mediation hervor.